Schaffen die das?

Schlimme Schicksale, Abschiebungen, Hass von rechts: Mit diesen Eindrücken werden Menschen konfrontiert, die mit Geflüchteten arbeiten. Aber wer hilft eigentlich denen, die anderen helfen?

Es muss etwa zwei Uhr in der Nacht sein, als Romy Bornscheuer am 8. September im vergangenen Jahr mit vier anderen Helferinnen und Helfern in einem schwarzen Citroën sitzt und zum ersten Mal in ihrem Leben Todesangst hat. Moria brennt. Aus diesem Grund macht sich die Gruppe noch so spät auf den Weg Richtung Flüchtlingslager. Sie wollen eine mobile Klinik aufbauen, Verletzte versorgen, helfen.

„Zu diesem Zeitpunkt rannten uns schon Tausende Menschen entgegen. Es war wie in einem Horrorfilm“, sagt Bornscheuer. „Und überall Kinder, die schreiend nach ihren Eltern suchen.“

Weil ein Weg versperrt ist, nimmt das Team eine andere Route, direkt durch Moria Village, das Dorf neben dem Lager. Romy Bornscheuer sitzt hinten, neben ihr haben die Sanitäterin und der Dolmetscher Platz genommen, vor ihr sitzt der Arzt, am Steuer die Chefin der NGO Healthbridge, für die alle im Wagen arbeiten.

Bornscheuer hat gleich ein mulmiges Gefühl in Moria Village. Was machen die vielen Männer mit Schlagstöcken, Messern und Ästen hier? „Please, keep driving, keep driving, no matter what happens“, sagt sie zur Fahrerin. Fahr bitte einfach weiter! Ihre Worte kommen aber nicht wirklich an. Der Wagen wird langsamer. Dann geht alles ganz schnell. 

Die Studentin 

Name: Romy Bornscheuer
Alter: 22
Geburtsort: Spangenberg (Hessen)

Die ersten Äste knallen auf den Citröen. Plötzlich reißt jemand die Fahrertür auf, der Wagen ist nicht verriegelt. Die Angreifer, griechische Rechtsextremisten, versuchen, die Fahrerin aus dem Auto zu ziehen. Zum Glück ist Romy Bornscheuers Chefin angeschnallt, hängt am Gurt. Als sie wieder ans Lenkrad greifen kann und den Wagen beschleunigt, fliegen Steine.

„Die Steine sind direkt neben unseren Köpfen gelandet. Die Heckscheibe war komplett zerstört“, erinnert sich Romy Bornscheuer. „Wir sind dann noch ein Stück weitergefahren, aber das Auto war voller Scherben.“ Also sind sie zu Fuß weiter. Flüchteten in einen Wald, zogen die weißen Shirts der NGO aus, damit der Mob sie nicht sofort sieht, warteten eine Dreiviertelstunde halbnackt im Gras, konnten wegen des Feuers kaum atmen.

„Um uns herum waren überall panische Menschen, die viel, viel mehr zu verlieren hatten als wir, weil wir immer noch so weiß und privilegiert waren, dass wir wussten, wir kommen da wahrscheinlich schon irgendwie raus – auch wenn wir Todesangst hatten. Aber wir hatten alle eine Versicherung, ein Heimatland, in das wir zurückkehren konnten – und eine Familie. Und diese Menschen hatten einfach nichts mehr.“

Diese verdammten Privilegien.

Bornscheuer, 22, kommt immer wieder darauf zurück, wenn man mit ihr darüber spricht, warum sie das macht, was sie macht: Geflüchteten ehrenamtlich helfen. Sie hat schon in Slums in Namibia gearbeitet, in Lagern an der syrisch-libanesischen Grenze, auf Booten im Mittelmeer – und eben auch in Moria. Ein Lager, das ursprünglich für 2800 Menschen ausgelegt war. Vor dem Feuer im Herbst lebten hier Schätzungen zufolge bis zu 20 000.

Romy Bornscheuer studiert in Lettland Medizin, ihr Abitur sei zu schlecht gewesen für einen Studienplatz in Deutschland, sagt sie. Zum ersten Mal in Kontakt mit Geflüchteten kam sie 2015. Da wurde die Turnhalle ihres Gymnasiums geschlossen, damit dort andere Menschen leben konnten. In das Haus neben das ihrer Eltern zogen damals vier afghanische Jungs, die mittlerweile Männer sind und zur engsten Familie gehören. „Sie sagen auch Mama und Papa zu meinen Eltern.“

Aber was sagen die Eltern zu Romy, wenn sie hören, dass ihre 22-jährige Tochter auf einer griechischen Insel von Rechtsextremisten gejagt wird? Wenn es nicht mehr nur um die Schicksale der Geflüchteten geht, sondern auch um ihres?

Romy Bornscheuer formuliert es so: „Sie müssen schon viel mitleiden. Natürlich höre ich von meiner eigenen Familie immer wieder: Warum musst du da hin? Kann denn nicht jemand anderes? Das ist total menschlich, dass die Familie Angst um einen hat, aber inzwischen wissen sie, dass ich einen Knall habe.“

Nach dem Angriff in Moria war Bornscheuer noch drei Tage auf Lesbos. Erst war sie davon überzeugt, dass sie bleiben wird. Damit die Faschisten nicht gewinnen. Aber dann wurde das neue Camp Kara Tepe geschaffen. Mit strengen Regeln für NGOs: Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter musste eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben. Es soll nichts über die desaströsen Zustände nach außen dringen.

Das war der Moment, in dem sie beschloss, nach Hause zu fliegen. Die bisher schwerste Entscheidung ihres Lebens, sagt Bornscheuer. Aber schweigen? Das ging einfach nicht.

Romy Bornscheuer kommt immer wieder an ihre Grenzen. Sie hat Tote aus dem Mittelmeer gezogen. Musste mit ansehen, wie Polizisten Geflüchtete wie Tiere behandeln. Saß am Abend noch mit Dolmetscherinnen und Dolmetschern aus ihrem Team am Tisch, die am nächsten Morgen weg waren. Abgeschoben.

Der Seelsorger

Name: Thomas Barkowski
Alter: 64
Geburtsort: Aschaffenburg (Bayern)

Wenn Thomas Barkowski kontaktiert wird, ist entweder schon etwas Schlimmes passiert, oder es bahnt sich zumindest an. Barkowski ist evangelischer Pfarrer, aber auch seit Anfang der Neunzigerjahre in der psychosozialen Notfallversorgung aktiv.

Im Dienst der Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen, kurz SbE, hat er immer wieder Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizistinnen begleitet. 2015 kam eine besondere Anfrage. Ob er sich vorstellen könnte, die Crew der Sea-Watch auf Lampedusa zu betreuen?

So fing das an. Mittlerweile steht in Barkowskis Mail-Signatur: „Einsatzkoordination Flüchtlingshilfe“. Er ist auch mit anderen Organisationen wie Jugend rettet, Sea-Eye und Mission Lifeline in Kontakt. Normalerweise ist es so, dass Barkowksi oder ein anderes Team-Mitglied vor und nach einem Einsatz der jeweiligen Crew aufs Schiff kommt. Briefing und Debriefing nennt er das. Vorher geht es unter anderem darum, wie man sich darauf vorbereiten kann, dass man Tote sieht. Danach wird über konkrete Situationen gesprochen: Was geht dir nicht mehr aus dem Kopf?

„Ich habe mal einen Einsatz betreut, da hat ein Marineschiff in einem Netz Leichen aus dem Meer geborgen. Das sind Bilder, die sich einbrennen.“ Wenn Helferinnen und Helfer Tote sehen, rät Thomas Barkowski, sich mit einem Ritual zu verabschieden. Das kann ein Gebet sein, eine Schweigeminute, manche werfen auch eine Blume ins Meer.

Die Konfrontation mit dem Tod sei für keinen Menschen leicht zu verarbeiten, sagt er. „Aber man darf nicht vergessen, dass auf den Schiffen Menschen arbeiten, die anderen unbedingt helfen wollen. Sie bringen ein hohes Empathievermögen mit. Deshalb geht ihnen das Erlebte besonders nah.“

Die neueren, größeren Schiffe hätten Kühlräume und Leichensäcke. Manchmal müssten Tote aber auch im Meer zurückgelassen oder an andere Schiffe übergeben werden, sagt Barkowski. „Das ist sehr belastend.“

Auch das spricht der Seelsorger im Briefing an: Ihr könnt nicht jedes Leben retten. Versucht zu retten, was zu retten ist. Und danach reden wir in Ruhe darüber. Seit Corona hat sich aber auch das Reden verändert. „Wir haben uns dann per Video auf das Schiff geschaltet, wenn sie vom Einsatz zurück waren.“ Alles andere als ideal, sagt Barkowski. Aber besser als nichts. „Die Helferinnen und Helfer sind in einer Art Blase, in einem permanenten Adrenalinschub. Der hält sie hochleistungsfähig und aufmerksam.“

Deshalb sei es auch so schwierig, sich nach einem Einsatz wieder zu integrieren. Ein Problem, das die meisten unterschätzten. Im Grunde sei das wie bei Einsatzkräften, die aus Kriegsgebieten zurückkommen. „Sie haben da eine sehr, sehr dichte Zeit erlebt, während der sie mit höchster Sinnhaftigkeit tätig waren, und kehren jetzt in einen relativ banalen Alltag zurück. Sitzen wieder im Hörsaal oder im Büro. Einige denken sich: Eigentlich müsste ich doch wieder da draußen sein und Menschen retten.“

Der Dolmetscher

Name: Sayed Moheudin
Alter: 33
Geburtsort: Mönchengladbach (NRW)

Sayed Moheudin kennt diesen Gedanken. Er sagt: „Das Gefühl, jemandem zu helfen, ist das schönste Gefühl überhaupt.“ Es gebe nichts, was vergleichbar sei. Er sagt aber auch: „Ich habe ein Parallelleben geführt und meine persönlichen Bedürfnisse hintenangestellt. Drei Jahre befand ich mich wie in einer starken Strömung eines Flusses.“

Wenn man Sayed Moheudin fragt, wann das alles angefangen hat mit seinem Engagement für Geflüchtete, erzählt er die Geschichte von einer afghanischen Großmutter und ihrer Enkeltochter bei der Tafel in Alsfeld, Hessen. Moheudin stand damals bei der Süßigkeitenausgabe, als die beiden auf ihn zukamen. „Ich habe dem Mädchen über den Kopf gestrichen und von Herzen alles Gute gewünscht.“ In seiner Muttersprache Dari. „Die beiden haben so gestrahlt, das ging mir sehr nah. Diesen Moment werde ich nie vergessen.“

Sayed Moheudins Eltern kommen aus Afghanistan, er ist in Mönchengladbach geboren. Hat sich schon immer dafür interessiert, wie das damals bei seiner Mutter und seinem Vater war.

1985 kamen sie in Frankfurt an, dann ging es weiter nach Kassel, später nach Nordrhein-Westfalen. So richtig auseinandergesetzt mit der eigenen Herkunft hat sich Moheudin aber vor allem 2015. Als die Bilder von Geflüchteten an deutschen Bahnhöfen durch die Welt gehen, ist er gerade selbst auf der Suche nach dem richtigen Weg für sich.

„Ich habe mein Studium in Fulda pausiert und bin wieder zurück nach Mönchengladbach.“ Er sei in einer persönlichen Krise gewesen, sagt er. Als Sayed Moheudin in seiner Heimatstadt ankommt, meldet er sich direkt bei einem Freiwilligenzentrum. Er will helfen, ehrenamtlich.

„Mein erster Einsatz war in einer Unterkunft, die mal eine Grundschule war. Da sind gerade 200 Menschen frisch angekommen. Man sah an den Gesichtern, dass sie eine schwere Reise hinter sich hatten.“ Mit Tüchern wurde versucht, Räumlichkeiten in der Turnhalle zu schaffen, erzählt Moheudin. Wenigstens etwas Privatsphäre.

Am Anfang hat er sich vor allem als Dolmetscher eingebracht. Bei Kontoeröffnungen geholfen, Geflüchtete zu Ämtern begleitet, Kinder an Schulen vermittelt. Moheudin sagt immer wieder, er sei da so hineingerutscht. Irgendwann half er auch in anderen Einrichtungen, war für manche Rechtsanwalt oder Arzt, für andere Bruder oder Vater. Er hat nie eine Schulung oder Ähnliches bekommen, auch keinen Supervisor. Also niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte, wie es ihm eigentlich mit all diesen Aufgaben geht.

„Es kam vor, dass Geflüchtete etwas in mir gesehen haben, was ich nicht bin. Ein Heilsbringer, der jeden Wunsch erfüllen kann. Ich war überall willkommen, man zerrte an mir herum.“ Sein Handy klingelte die ganze Zeit. Manchmal riefen auch Geflüchtete aus anderen Bundesländern an. Menschen, die er gar nicht kannte.

Obwohl Sayed Moheudin Fußball liebt, wusste er zu dieser Zeit nicht, wer gerade Tabellenführer in der Bundesliga war. „Dafür gab es keinen Platz mehr in meinem Leben.“ Stattdessen hat er sich nachts den Kopf zerbrochen, wem er am nächsten Tag wie helfen kann. 2016 wurde er exmatrikuliert, weil er seine Krankenversicherung nicht mehr zahlen konnte.

Sayed Moheudin hat so vielen anderen geholfen, dass er gar nicht gemerkt hat, dass er selbst Hilfe braucht.

Die Sache mit Nähe und Distanz treibt ihn noch heute um. „Man bewegt sich auf hauchdünnem Eis“, sagt er. Einmal hat ihn eine Frau gebeten, sie zu einem Anwalt zu begleiten. Ihr Mann soll die beiden gemeinsamen Töchter sexuell missbraucht haben. Natürlich wollte Moheudin der Frau helfen. Aber dann hing er da auch emotional mit drin. Musste sich die grausamen Details anhören.

Seit August 2020 macht Sayed Moheudin eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Er arbeitet in einem Unternehmen, das Etiketten herstellt. Ob er sich heute noch mal fünf Tage die Woche in einer Unterkunft engagieren würde? Schwierige Frage, sagt Moheudin, aber helfen will er auf jeden Fall weiter. 

Die Professorin

Name: Yesim Erim
Alter: 60
Geburtsort: Istanbul (Türkei)

Warum helfen Menschen überhaupt? Yesim Erim hat sich diese Frage schon oft gestellt. „Es scheint ein biologisches Bedürfnis zu sein, das tief in uns verankert ist. Das finde ich sehr erfreulich.“ Erim ist Professorin für Psychosomatische Medizin und Leiterin der gleichnamigen Abteilung am Universitätsklinikum Erlangen. Von 2016 an hat sie in Kooperation mit dem Arbeiter-Samariter-Bund sechsstündige Schulungen für Helferinnen und Helfer angeboten, die mit Geflüchteten arbeiten.

Erim wollte nebenbei im Rahmen einer Begleitstudie erfahren, wer diese Menschen sind, was sie antreibt, aber auch wo sie an Grenzen stoßen. Dafür sollten die Haupt- und Ehrenamtlichen einen Fragebogen ausfüllen. 135 waren bereit, Auskunft zu geben. Mehr als 90 Prozent der Helferinnen und Helfer gaben an, mindestens ein traumatisches Ereignis erlebt zu haben. Zum Vergleich: Normalerweise trifft das in Deutschland nur auf etwa 25 Prozent der Befragten zu.

„Man muss aber auch dazusagen, dass in der Stichprobe nur drei Personen die Kriterien einer PTBS-Diagnose erfüllt haben.“ Also einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die verzögerte psychische Reaktion auf ein extrem belastendes Ereignis. Eine PTBS kann auch auch dadurch ausgelöst werden, dass ein anderer Mensch etwas erzählt, das ihm widerfahren ist. Davor seien auch erfahrene Therapeutinnen und Therapeuten nicht geschützt, sagt Erim.

Über Spiegelneuronen, spezielle Nervenzellen im Gehirn, gelangen Traumaerfahrungen des Gegenübers im Gespräch in das eigene zentrale Nervensystem. Das könne im schlimmsten Fall von Schlafstörungen über depressive Verstimmungen bis hin zu körperlichen Beschwerden führen, sagt Yesim Erim.

Kann ich überhaupt etwas ändern? Haben Geflüchtete wirklich eine Chance auf einen guten und sicheren Platz in der Gesellschaft? Viele Helferinnen und Helfer, sagt Erim, spüren eine gewisse Ohnmacht. „Es kommt auch in Deutschland immer wieder vor, dass selbst bestens integrierte Frauen und Männer von heute auf morgen abgeschoben werden.“

Aber wie könnten Helferinnen und Helfer besser unterstützt werden? „Supervision finde ich extrem wichtig. Die Möglichkeit, mit jemandem zu sprechen, der ein Stückchen mehr Erfahrung hat. Man kriegt dadurch auch eine Öffentlichkeit für das, was man erlebt hat.“ Außerdem müsse es Schulungen und Weiterbildungen geben, besonders für Ehrenamtliche.

Yesim Erim würde sich wünschen, dass mehr über die Motive und Belastungsgrenzen von Helferinnen und Helfern geforscht wird. „Denn das sind Menschen, die wir in einer Demokratie brauchen.“

Aus: https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/karriere/hilfe-fuer-fluechtlingshelfer-schaffen-die-das-e943450/

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